Dieser Autor weiß nicht, wieso er dieses Groschenheft entdeckte. Sehr wohl weiß er, was ein Groschenheft ist. Er selbst hat noch welche gekauft: Hefte, die nur ein paar Groschen kosteten, und die im Allgemeinen periodisch erschienen. Zum Verstandnis jüngerer Leser sei angemerkt: Ein Groschen war eine 10 Pfennig-Münze, zumindest zu der Zeit und für den Autor, als er ebensolche Hefte kaufte. „Perry Rhodan“ war für den Autor ein solches Groschenheft, ein Groschenroman, der gleichzeitig in fünf (!) verschiedenen Auflagen erschien. Damals kostete ein Heft noch nur 70 Pfennige, man kann es also getrost noch als ein Vielfaches eines Groschen bezeichnen, heute kostet es ein wenig Vielfaches eines Euro. Von einem Euroheft zu sprechen wäre jedoch geschmacklos.
Aber dieser Autor schweift ab. Es geht um das Groschenheft „Das Treffen in Brakel“:
Fünf Autoren auf einem Schloss in Ostwestfalen, fernab der Zivilisation. Sie essen, trinken, reden, rauchen – und schreiben. Mit ihren Geschichten geben sie sich die Klinke in die Hand. Sozusagen.
Dieser Autor hatte im Kiosk um die Ecke gestöbert und war über den Namen einer der Autoren dieses Groschenheftes gestolpert. Dieser Autor liest gerne den Martenstein und hat auch schon über ihn geschrieben. Was, das weiß er nicht mehr, aber es muss nichts Schlechtes gewesen sein. Immerhin sind wir beide Scheinjuden.
Jetzt liest dieser Autor dieses Groschenheft der Autoren, Schreiberlinge, Journalisten, Dichter und was sonst noch alles Alex Capus, Harald Martenstein, Tilman Spengler, Joseph v. Westphalen und Willi Winkler. Sie schrieben es in Brakel, auf Schloss Gehrden (wo auch immer dies in Ostwestfalen sein mag), auf Einladung von FSB. Nein, es handelt sich nicht um den russischen Geheimdienst, sondern um die Franz Schneider Brakel GmbH, einen Türklinkenhersteller.
BTW Wo ist Ostwestfalen?
Dies entnimmt dieser Autor jetzt der Einleitung (Vorwort, Präambel, was auch immer) Wolfgang Bachmanns, und dieser Autor ist bereits sehr schnell sehr verwirrt. Vielleicht auch, weil dieser Autor kein Groschenheft in der Hand hält sondern ein iPad, und weil er das Nicht-Groschenheft nicht im Kiosk sondern im iBooks-Store erstanden hat, und dann auch weder für Groschen oder für Euro sondern für Umme.
Dieser Autor ist überzeugt, dass ihn dieses Groschenheft weiterhin verwirren wird. „Sie haben es nicht in der Hand“, sagt er voller Autorität zu sich selbst. Doch gerade deswegen wird er an dem Titel „Die Brakelsche Verwirrung“ festhalten, komme, was da komme. Zumindest den Titel möchte er in der Hand behalten. Und er wird beim Lesen immer wieder hierhin weg“multitasken“, seine sicherlich verwirrten Gedanken nieder“padden“, um anschließend wieder zurückzu“switchen“.
- Die Klostergeschichte von Willi Winkler beginnt wie ein gemeiner „Historischer Roman“ und beginnt den Autor mangels Interesse an solchigem in ein Aufmerksamkeitsdefizit zu treiben. Immerhin vermag der andere Autor hinreichend bildlich zu schreiben, auch wenn dieser Autor lieber Cowboy und Indianer-Geschichten, am liebsten solche, die im Weltall spielen, liest. Und dann, endlich, scheint sich eine Liebeserzählung mit 12 konkurrierenden Nonnen anzubahnen. Zumindest liest dieser Autor es so, dass sich etwas solchiges anbahnen wird. Doch ob Maurus die richtge Zelle erreicht? Nicht nur die eine, alle Zwölfe sogar erreicht er. Alle Zwölfe! Dann die Äbtissin, dann der Bischof, dann das unrühmliche und abrupte Ende. Aus, vorbei, Ende.
- Abrupt auch sofort beginnt der kurze Konzernroman von Joseph v. Westphalen, als der Chef wider Willen seine Muskeln spielen lässt. Dieser Auto ahnt schnell, wieso sich der Chef nicht seiner Nadja widmen kann. Die Tragik haut die anderen Brüder aus den Socken in ein Grab, Otto muss einspringen, er verzweifelt, und dann… was? Dieser Autor hätte darauf wetten sollen – und verloren. Aber Otto ist jetzt in der Klemme. Entweder es gibt eine geniale Wendung, oder er fährt an die Wand – oder einen Baum. Abstrus, das mit der Nadja und der Doktorarbeit. Dieser Autor ist tatsächlich verwirrt. Abstrus, sehr abstrus. Und dann die Wende durch Nadja, die Opernsängerin… Abstrus.
- Die Geschichte aus dem Teutoburger Wald von Alex Capus beginnt wie ein Heimatroman frei nach dem Motto „Reicher Adliger trifft armes Kirmesmädchen“. Dieser Autor fragt sich, ob es ein Happy End geben wird – oder ob es wie in einer tragischen Oper zu Toten und Blut kommen wird. Verschätzt, zumindest in Bezug auf den Adligen, hat sich dieser Autor zumindest einmal schon. Der Adlige scheint eher ein romantischer, der Seefahrt verfallener Freddy Quinn zu sein. Und doch bleibt er bis zum Ende eine tragische Gestalt.
- Tilman Spengler schreibt über die historische Cambridge-Disputation. Oder sollte es historizistische Cambridge-Distribution lauten? Egal, zu diesem Zeitpunkt kann dieser Autor dies sowieso nicht beurteilen, auch wenn „zisti“ der kleinen Hauptperson irgendwie gut stehen würde. Auch klingt das „zisti“ irgendwie geheimnisvoll, so wie die Geschichte sich um die eigentliche, angekündigte Handlung drückt. Doch bei den ganzen Philosophen muss dieser Autor letzten Endes etwas verwirrend philosophisch Geheimnisvolles unterstellen und eine gewisse kognitive Dissonanz vermuten. Kein Wunder bei dem überraschenden Schürhaken-Ende, das keines ist.
- Endlich bekommt auch dieser Martenstein die Gelegenheit, eine Geschichte zu erzählen. Es soll um etwas aus dem Anstaltswesen gehen, läßt die Unter-Überschrift diesen Autor vermuten. „Anstalt“, das kann eigentlich nur Langweiliges aber dennoch Abstruses bedeuten. Aber was sucht in solch einer Geschichte (vielleicht sogar in einer historischen?) erneut ein Adliger, der als Lehrender zusammen mit seiner Schülerin in einem Raum sitzt, wo es sich bei dem Gegenstand des Gesprächs dann um etwas so profanes wie Design handelt, dessen immanent Grundsätzliches die Studentin absehbar nicht zu erkennen in der Lage sein wird? Etwas mehr Überraschung und Kreativität hätte dieser Autorr diesem Martenstein denn doch zugetraut. Dieser Entwurf enttäuscht diesen Autor selbstverständlich. Andererseits zeichnen sich eine oder drei Entwicklungen ab, die diesem Autor zumindest… interessant vorkämen. Aber Absicht, konnte dies Absicht von dieser S. gewesen sein? Ach, es geht ja um eine Anstalt…
- Schon wieder eine Erzählung „was mit Adel“, dieses Mal von Joseph v. Westphalen (ach, woher kommt nur dieses „v.“?). Das Schloss muss bei diesen Erzählern irgend etwas ausgelöst haben, sozusagen eine Klinke gedrückt haben. Oder auch eine Schraube gelockert. eine ähnliche wie die des jungen Grafen, der aber dann älter wurde ohne seinen Traum aufzugeben. Dieser Autor träumt selbst gerne von diesem oder jenem, aber darüber alt zu werden und dann in dunklen Häusern… Immerhin, es wird dann auch nichts aus dem Traum.
Jetzt also sitzt dieser Autor vor dem Groschenheft, das keines ist, und freut sich über kurzweilige Einhundertundzehn Seiten. Es hätten mehr Seiten sein können, wenn er eine höhere Schriftgröße auf seinem iBooks-Reader eingestellt hätte. Oder weniger, wenn er eine geringere Schriftgröße eingestellt hätte. Aber so ist das eben: Manchmal bekommt man etwas anderes, bloß weil man eine andere Einstellung hat. Dieser Autor hat dieses Mal nicht an der Einstellung herumgespielt, geschweige dass er überhaupt über seine Einstellung nachgedacht hatte. So hat er es einfach geschehen lassen, das Lesen. Auch wenn er dabei verschiedenen Gedanken nachgehangen hatte, so tat er dies ohne Absicht, ohne Wohl und ohne Wehe.
Dieser Autor hatte es in der Hand, er hatte es nur nicht gewusst. Doch so war es besser gekommen, nichts zu tun, und der Klinke ihren Lauf zu lassen. Manchmal ist es besser so.
P.S.: Eines möchte dieser Autor all zu gerne erfahren: Wieso durfte Joseph v. Westphalen zwei Geschichten erzählen?
P.P.S.: Und überhaupt: Wie könnt es dieser Autor schaffen, auch einmal auf einem Schloss fürstlich versorgt zu werden?
P.P.P.S.: Der Autor hat diesen Artikel vergnüglich in Antholz mit dem Writer for iPad geschrieben und später in WordPress sowie Links eingefügt.
Brakel liegt im schönen Ostwestfalen, wo die literarische Tradition ein namhaftes zuhause hat. Unweit von Schloss Gehrden, nämlich auf Schloss Bökerhof, weilten etwa auch die Brüder Grimm im Zuge ihrer Suche nach literarischen Stoffen für ihre Kinder- und Hausmärchen sowie Anette von Droste-Hülshoff. Auf dem nahegelegenen Schloss Thienhausen schrieb Friedrich Wilhelm Weber sein Epos „Dreizehnlinden“ sowie Levin Schücking (einer der leider heute nur noch als Herausgeber der Schriften der Droste bekannter, aber in seinem eigenen, reichen Werk herausragender Schriftsteller) seinen Roman „Die Herberge der Gerechtigkeit“. In der Region war mit Baron von Haxthausen einer der wichtigsten Kulturförderer des 19. Jahrhunderts zuhause, mit internationalem Renommee, das bis zum Hof des russischen Zaren reichte. In Corvey, unweit von Brakel, wirkte Hoffmann von Fallersleben, der Dichter des Textes unserer Nationalhymne, und ist auch dort begraben. Später wirkte Wilhelm Raabe über kurze Zeit in der Region. Kurz und gut: Eine Reise nach Ostwestfalen (oder besser gleich nach Brakel im dortigen Kreis Höxter) lohnt sich nicht nur wegen der überwältigend schönen Landschaft des „gebirgichten Westphalen“ (wie es bei der Droste-Hülshoff heißt, dessen „Dorf B.“ aus der „Judenbuche“ übrigens das heute noch existierende Dorf Bellersen zwischen Höxter und Brakel repräsentiert), sondern auch wegen des reichen literarischen Erbes dieser Region. Was die „Groschenhefte“ angeht: Die kann man dann ja getrost zuhause lassen. Die ostwestfälische Buch-Literatur ist viel anregender. :-)
Danke für die ausführlichen Erläuterungen. Sehr schön finde ich es auch, dass der Artikel nach immerhin fast drei Jahren einen Kommentar erhält, vielen Dank!
Vielleicht sollte ich tatsächlich einmal in die Gegend fahren, vielleicht auf ein verlängertes Wochenende…