Dieses Jahr steht im Zeichen meines Vaters. Zu wissen und zu erfahren, dass ein lieber Mensch stirbt, das sind zwei unterschiedliche Dinge. Die Erfahrung, von Woche zu Woche und dann von Tag zu Tag diesen lieben Menschen sterben zu sehen, tut weh. Ein persönlicher Jahresrückblick und ein kleiner Ausblick.
Noch am Jahresanfang will ich es nicht wirklich glauben. Ich glaube, „es“ wird doch noch irgendwie gutgehen. „Es“, das ist ein tödlicher Hirntumor (Glioblastom). Zunächst halten sich die Symptome bei meinem Vater in Grenzen: Vergesslichkeit, leichte Sprachstörungen, allgemeine Mattigkeit, eine Sehschwäche.
Im Januar noch fahren wir für eine Woche nach Antholz zum Biathlonwettkampf. „Fahrt, Ihr braucht das, und Ihr könnt nichts tun, was ich nicht auch kann!“ sagt meine Mutter. Die Chemo müssen wir zuvor abbrechen, weil mein Vater sie nicht verträgt. Wir wissen um das Unvermeidliche. Antholz bringt mir kein Vergessen.
Eine weitere Operation ist nicht möglich, der Tumor sitzt zu tief an und in wichtigen Hirnregionen. Dennoch immer wieder Kontrolluntersuchungen. Ich bin oft im Odenwald bei meinen Eltern. Mein Vater hat keine Schmerzen, sagt er. Nie hatte er Schmerzen. Zumindest sagt er das. Nie sagt er das böse Wort: Hirntumor. Seine Krankheit umschreibt er, wenn Ärzte oder wir ihn dazu fragen. „Da ist was in meinem Kopf“ meint er nur und umgeht jede Diskussion dazu.
Seit dem Sommer zuvor habe ich nach einer neuen Stelle keinen Job, es ist eine Mischung aus „Es hatte nicht harmoniert“ und „Ich will für meinen Vater dasein“. Ich bin immer mal wieder auf Veranstaltungen, bin unter anderem auf dem Enterprise 2.0 Summit in Paris. Ich überlege und schwanke zwischen einem neuen Job und der Selbständigkeit für „danach“.
Die Symptome werden schlimmer. Im April ist eine Unterhaltung mit meinem Vater kaum noch möglich, der Rollator hilft ihm nicht mehr, er geht kaum wenige Schritte in der Wohnung. Der körperliche und geistige Verfall schreitet voran. Irgendwie weiß er im Innern um seinen Zustand und freut sich auf seinen achtzigsten Geburtstag am 21. April. Ein letztes Mal kommen Verwandte, Geschwister, Freunde, Nachbarn, Bekannte. Auch seine Schwester, die im Monat darauf an einem allergischen Schock sterben wird. Er blüht auf, mit dem Bürgermeister kommt sogar so etwas wie eine Unterhaltung auf – auch wenn sie auf meines Vaters Seite nur aus Floskeln und kurzen Sätzen besteht. Am Nachmittag muss er sich zwischendurch auf der Couch hinlegen, aber ins Bett will er nicht.
Im Mai fahre ich für ein paar Tage zur Re:publica nach Berlin. Ein riesiges Klassentreffen mit alten und neuen Bekannten. Meine Mutter drängt mich geradezu. Ich unterhalte mich mit Menschen und kann den einen Menschen dabei nicht vergessen. Doch ein ausführliches Gespräch wird mein Leben später am Jahreswechsel ändern. Meine Versuche, meine Mutter zu Erholungszeiten und mehr Unterstützung zu drängen, schlagen kläglich fehl. Immer erst, wenn sie wirklich nicht mehr kann, nimmt sie wieder etwas mehr Hilfe an wie die von der Sozialstation Höchst.
Nachdem ich aus Berlin zurück bin akzeptiert meine Mutter dann irgendwann das Unvermeidliche: Sie kann meinen Vater nicht mehr zuhause pflegen. Er kann nicht mehr sprechen, kann sich fast nicht mehr bewegen. Manchmal kommt ein gequälter Schrei, plötzlich scheint er immense Kräfte zu haben und versucht er, sich aus dem Pflegebett zu heben. Kaum eine Minute lässt meine Mutter ihn alleine. Doch dann gibt sie zu: Sie schafft es nicht mehr. Meine vorherigen Erkundigungen und Gespräche machen sich bezahlt, innerhalb von nur zwei Tagen haben wir einen Platz und mein Vater ist in einem Pflegeheim.
Immer wieder fahren wir zu meinem Vater. Oft liegt er einfach nur da, aber an vielen Tagen lächelt er uns an, drückt unsere Hand. Meine Mutter kann etwas durchatmen, zumindest körperlich. Sie will, dass auch Manuela und ich für ein paar Tage durchatmen, und wir fahren im Juli zu Verwandten nach Dachau. Auf der Fahrt zu einem Ausflug am Starnberger See kommt der Anruf.
Mein Vater war ein stiller, ruhiger Mensch. Die Gedenkfeier passt zu ihm. Still und ruhig. Ein allerletztes Mal kommen Verwandte, Geschwister, Freunde, Nachbarn, Bekannte, Jahrgänge. Die Halle ist viel zu klein, bis weit ins Freie stehen die Leute. Viele habe ich seit vielen Jahren nicht gesehen oder kenne ich noch nicht einmal. Wir unterhalten uns, erinnern uns.
Ich unterstütze meine Mutter bei dem vielen Papierkrieg, erledige Besorgungen, besuche sie. Die Gemeinschaft von Feunden und Bekannten ist unglaublich und gibt ihr weiteren Halt. Immer wieder aber gibt es Momente des Erinnerns und auch der Trauer.
Ich will leben. Living for Life.
Bis zum Jahresende nehme ich mir Zeit, dann will ich wieder „tätig werden“. Es geht mir um Arbeit im Sinne von „zusammen“ arbeiten. Ob ich das als Angestellter oder als Selbständiger tue, ist nachrangig. Es geht mir um die Tätigkeiten, das Menscheln, das Tun, das Lernen. Wenn ich Tim Ferris lese, schleicht sich zunächst ein Bedauern für ihn ein: Er muss arbeiten, damit er Geld hat, damit er Dinge tun kann, die ihm Spaß machen. Kein Wunder, dass er krampfhaft die Arbeit minimiert, damit er überhaupt Spaß haben kann. Inzwischen bemitleide ich ihn. Ich will gerne arbeiten und dabei Spaß haben. Gleichzeitig. Wenn ich das trenne, und selbst wenn ich die Arbeit auf vier Stunden in der Woche minimiere, dann ist das vergeudete, weggeworfene Zeit.
Informationen sammeln, Erkundigungen einholen, Gespräche führen, vereinzelt Seminare besuchen, Pläne machen. Die Seminare sind im Wesentlichen Zeitvergeudung. Finanzen, Steuern und viel wichtiger: Inhalte. Mein Alter, meine Erfahrungen, meine Reife: Zu viel und zu teuer? Zu wenig Freiheit? Dann also Selbständigkeit. Mein BWL-Studium zahlt sich nach Jahrzehnten erneut aus: Ich bin „beratender Betriebswirt“ und werde dadurch Freiberufler.
Im November ziehen wir um von einer Doppelhaushälfte mit vier Zimmern und Keller in vier Etagen in Schwabenheim in eine großzügige Dreizimmerwohnung auf einer Ebene in Selzen. Der Umzug und seine Vorbereitungen sind stressfrei und machen Spaß, am Abend stehen alle Möbel, sogar die Küche mit allen angeschlossenen Geräten. Wir, @diemanuela und @fwhamm, bleiben im Selztal und gewinnen sympathische Vermieter. Auch die Jungs, @HerrIdefix und @Pupsylotta, fühlen sich sofort wohl.
Ende November erhalte ich eine Nachricht. Ich habe Zeit für ein Treffen. Ein weiteres Treffen. Angenehme Treffen, sehr angenehme. Alter, Erfahrungen, Reife, Freiheit – auch für eigene Projekte – und vor allem: Spaß.
Pläne sind dafür da, über den Haufen geworfen zu werden. Aber ohne Plan überlebt man die erste Viertelstunde der Schlacht nicht. Habe ich so vor über 30 Jahren einmal gelernt. Meine militärische Vergangenheit schimmert immer mal wieder durch – mindestens mit einem oder zwei Augenzwinkern ;-)
Ich werfe also meine beruflichen Pläne über den Haufen, ordne und forme sie neu, mache zwei neue Pläne:
- Senior Consultant bei einer Agentur in Frankfurt.
- Freier PR-Berater im Bereich Kommunikation und Kollaboration.
INJELEA – IN Jedem Ende Liegt ein Anfang. Ich freue mich auf den Jahresanfang – und auf zahlreiche Gespräche :-)
Ihr und Euer Frank
Ein kleiner Einblick in die Gegend von Selzen, Selztal und Umgebung:
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P.S. Sogar pünktlich zum Jahresende habe ich mein zweites 365er Projekt abgeschlossen: Meine 365 – Dieses Jahr mit Zugabe.